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Geheimagenten in der Ausbildung

Aktualisiert: 14. Juni 2020


Ich spare mir jetzt mal das "nach so langer Zeit...", das "Ihr wisst ja, wie das ist..." und das "jetzt lass' ich endlich mal wieder was von mir hören"-Zeug. Nein, viel spannender, ich steige sofort in das aktuelle Geschehen hier in Shanghai ein. Ist das nicht schön? Doch das ist es. Endlich, nach so langer Zeit lasse ich also endlich mal wieder was von mir hören, Ihr wisst ja, wie das ist.


Also, was gibt es Neues? Es gibt einen Herrenstammtisch. Gegründet von Vätern, deren Familien während der Hochzeit der Pandemie hier in China ihre Familien außer Landes schafften und dann geistig wohl irgendwie auf dem Trockenen saßen. Und was macht der geneigte Ingenieur, wenn er auf dem Trockenen sitzt? Richtig, er schüttet Bier in sich rein, aber niemals allein. Ein Stammtisch muss sein ... Moment mal, tut es das, was ich vermute?


Er leert Bier in sich rein.

Aber niemals allein.

Ein Stammtisch muss sein.


Tatsächlich, es reimt sich. Manometer, mal eben locker aus der Hüfte.


Jedenfalls Stammtisch. Als wir im März wieder nach Shanghai kamen und unsere 2-wöchige Quarantäne vorbei war, haben sie mich gefragt, ob ich nicht teilnehmen will. Und na klar wollte ich. Jetzt treffen wir uns einmal die Woche (immer donnerstags, falls jemand von Euch mal einen Abend frei bekommt) in einem Steakhouse. Und schon beim zweiten Treffen eskalierte die Lage. Wir waren etwa zu acht, hatten Burger und Steaks verspeist und saßen beim Bier und den typsichen Themen Corona, Urlaub in Vietnam, Gärtner und Schulschließungen, als sich schließlich zwei junge Chinesen zu uns an den Tisch setzten. Sie fielen uns schon vorher am Nachbartisch auf, da sie sich lange damit beschäftigten, wie man Weizenbier wohl am besten trinkt. Und jetzt wollten sie sich augenscheinlich Tipps aus erster Hand beschaffen. Also bestellten sie als erste Amtshandlung für alle Weizenbier. Mit einer Frequenz, die an unseren Gold-Achter bei den Olympischen Spielen 2008 denken ließ, stießen sie an, tranken, stießen sie an, tranken usw. Innerhalb kürzester Zeit, ca. 10 Minuten war unser ganzer Tisch mit leeren Gläsern vollgestellt und auf einen halb lallenden, halb befehlenden Ton Richtung Kellner, kamen bereits die nächsten Gläser. Zwischen anstoßen und trinken unterhielt man sich über so ziemlich alle gängigen Klischées beider Länder, insbesondere waren sie an unserer Haltung zur aktuellen Taiwan-Situation interessiert. Zur Veranschaulichung ein kurzer Ausschnitt (der Einfachheit halber auf Deutsch, im Original war es Ingenieurs-Denglisch ohne th):


Die Protagonisten

Mr. Cheng, Mr. Lee

Ingo, Dingo, Ringo, Udo, Fredo, Ullo, Wolle und Philipp


Mr. Cheng: Oh, Ihr seid alle aus Deutschland, Bier, Hitler, Blitzkrieg, Sauerkraut, gut, sehr gut. Und Autos. Ich liebe Mercedes. Wo arbeitest du?

Philipp: Meine Frau arbeitet bei BMW.

Mr. Cheng: BMW? Ich liebe BMW. Ich habe ein X5 und einen Z4.

Mr. Lee (nur mit einem halben Ohr zuhörend): BMW? Ich liebe BMW. Ich habe einen X5 und einen Z4.

Mr. Cheng (peinlich berührt, erklärend): Wir sind Brüder. (später sind sie Arbeitskollegen, noch einmal später verschwägert und am Ende wieder Arbeitskollegen)

Ringo: Was macht Ihr beruflich?

Mr. Lee: Ich baue Ventile für Atomkraftwerke. Wir sind nicht so gut, wie die deutschen Ventile aber viel billiger, will noch jemand ein Bier? Ich bestelle Bier für alle. BIER FÜR ALLE! Hey Udo, magst du deutsches Bier? Kennt ihr das Oktoberfest? Wohnst du in Berlin oder München? Was denkst über Taiwan?

Udo (verdutzt): Taiwan?

Wolle (unterbricht): Nichts. Wir haben keine Meinung über Taiwan. Haben wir noch Bier?


An dieser Stelle blickt Wolle zum ersten Mal leicht warnend in die Runde, Wolle lebt schon lange in China und kennt sich aus. Er hat mir erklärt, wo man sein Auto waschen lassen kann, wie man tankt, was auf der Post so passiert und wie man ein Paket verschickt und das sich ab und zu chinesische Staatsdiener zum zwanglosen Miteinander an ausländische Tische setzen.


Ingo, der kein englisch kann, redet eher wenig, trinkt dafür umso mehr. Aber Taiwan hat er verstanden.

Ingo (auf deutsch): Taiwan, Ihr redet über Taiwan, ich war mal in Taiwan, die Leute sind sehr nett, es ist ein tolles Land, und wie mutig es sich...

Wolle, Dingo, Ringo, Udo, Fredo, Ullo: BIER! Wir brauchen hier noch mehr BIER! (dabei zeigen sie auf den irritierten Ingo)

Mr. Lee: Taiwan? Bier? (er blickt fragend zu Mr. Cheng, der nickt unmerklich)

Mr. Lee: Wir wollen mehr Bier. (dann, an Ingo gewandt) Wo arbeitest du?

Ingo (nachdem ihm die Frage übersetzt wurde): Meine Frau arbeitet bei VW.

Mr. Lee: VW? Ich liebe VW. Mein Bruder hat einen Tiguan und einen Golf.


So und ähnlich ging es über 3 Stunden weiter. Immer wieder kamen aus dem betrunkenen Nichts Fragen zu heiklen Themen. Doch auch Mr. Cheng und Mr. Lee verloren rapide an Kontrolle, zahlten am Ende die ganze Zeche für uns alle und wankten nach draußen. Kurz vorher wurden wir alle in seine Firma eingeladen, weil wir so anders waren, als sie von Deutschen erwartet hatten und Mr. Cheng zeigte mir noch stolz ein Bild von seinem Auto: ein Mercedes G-Klasse.


Als ich mich anschließend um 2:30 Uhr ins Hause "schlich", flüsterte ich Verena noch leise ins Ohr "Merk' dir gut, wir haben keine Meinung zu Taiwan".




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