TAGEIN, TAGAUS, TAGEIN, ...

Eins vorneweg, wir sind uns der schwierigen Lage in Deutschland bewusst und wir wissen, dass wir es im Augenblick in China sehr viel leichter haben, als die meisten anderen. Unsere Bewegung ist zwar eingeschränkt, allerdings im Rahmen einer 23-Millionen-Einwohner-Stadt.
Aber vielleicht fühlt sich die eine oder der andere zu Lockdown Zeiten zumindest gut unterhalten, wenn ich einfach mal etwas von meinem neuen Alltag erzähle.
Wo fange ich an? Montag? Montag.
Der Wecker klingelt zum ersten Mal um 6 Uhr. Und dann nochmal um 6:30. Jetzt aber hurtig aus dem Bett gehüpft und die Heizung angeworfen. Heizen ist hier gerade im Winter besonders wichtig („ach...“), denn ansonsten stirbt man am Luftzug. Die chinesische Bauweise oder vielleicht eine chinesische Bauvorschrift lässt keine vernünftigen Fenster zu, wehmütig denkt man an Dreifachverglasung zurück, während mir im Bad der Wind um die Ohren pfeift - ist wie Zugspitze im Herbst.
Tom wirft vom Sofa unter 4 Decken ein fröhliches „Guten Morgen“ in den Raum, er ist seit zirka 2 Stunden wach und hört Spotify leer. Ich weiß nicht, wie ich einen vernünftigen Schlaf-Wach-Rhythmus in dieses Kind bekommen soll. Also mache ich erst mal Kaffee, dann die Brotboxen füllen, Frühstück für die Kinder richten, Formulare ausfüllen („Name, Datum, Körpertemperatur, seit wann in Shanghai, Corona-Symptome ja/nein, Telefonnummer und Unterschrift), damit die Kinder das Schulgelände betreten dürfen. Tom fängt an zu hippeln, ich zwinge ihn noch zum Mütze- und Maske-Tragen und dann wird er vom Wind, der gerade durch die Küche weht aus dem Haus gepustet.
Durch die zuknallende Tür erwacht Mathilda und will umsorgt werden. Müsli, Milch, Zähne, Bürste, Haarspange und fertig ist die Laube. Um 7:40 Uhr verlassen auch wir das Haus. An der Sicherheitsschleuse zum Kindergarten hört sie dann auf, mich wahrzunehmen und will nur noch in die Krokodilgruppe und zu Lorenz. Wer ist überhaupt dieser Lorenz und warum ist so ein 5 jähriger Bengel plötzlich so viel cooler als ich? Ein kurzer Wink ohne Blickkontakt ist das einzige, was ich noch bekomme.
Anschließend radele ich wieder nach Hause. Nochmal Kaffee machen, mein Bett lächelt mich an, ich lächele verstohlen zurück. Wie einfach das jetzt wäre... nochmal kurz... nur 10 Minuten... aber nein. Es geht leider nicht. Ich habe es versucht, glaubt mir! Aber es fühlt sich nicht gut an, so sehr ich mich auch gezwungen habe.
Also, was dann? Ich übe Schlagzeug, ich werde irre, weil ich nicht verstehe, wie es Tom so leicht und mir so schwer fallen kann, haben wir mit Atze doch den gleichen Lehrer (er heißt wirklich Atze, in Shanghai, Atze, Wahnsinn, oder?). Nach 20 Minuten fühle ich mich dann endlich wie ein Rockstar, ein Bier lächelt mich an, ich lächele verstohlen zurück, geht aber nicht. Schmeckt auch nicht, ich habe es versucht.
Im Internet erwarten mich die üblichen Schlagzeilen, R-Werte, Trump-Skandale, Stuttgart hat 4:1 gewonnen, Olé Olé, ich klappe die Kiste wieder zu. Bald ist es 9 Uhr und dann kann ich mich auf die Elevated Road wagen, dann braucht man für die 12 Kilometer in die Innenstadt nur noch knapp eine Stunde. Denn meine aktuellen Shanghai-Innenstadt-Blog-Projekte heißen „Buchläden“ und „Fotos von Ladenfassaden“.

Ich erreiche um 10:15 Uhr die Anfu Road. Hier spielt sich etwas westliches Leben ab, der Frisör heißt „Peter“, das Lebensmittelgeschäft „Alimentari“, die Kunstgalerie „Badproject“ der Metzger „Swiss Butcher“ und das Straßencafé „Marienbad“. Man kann gut parken und eine Buchhandlung, die in einer orthodoxen Kirche eingerichtet wurde ist nur ein paar Straßen weiter. Ich fotografiere viel, streichle zwei Hunde (Hunde sind in der oberen Bevölkerungsschicht DER heiße Scheibenkleister) und trinke Kaffee im Marienbad (glaubt bloß nicht, dass die Leute in den jeweiligen Läden Peter, Luigi, Donna, Steve, Urs oder Volker heißen, die Namen sind lediglich die Überbleibsel ihrer Gründer).

Um 12:30 Uhr trete ich die Heimreise an, entferne den Strafzettel, rangiere vorsichtig aus der plötzlich entstanden Baustelle, in der ich jetzt stehe und rase mit 40 Sachen über die Stadtautobahn wieder in unsere Vorstadt. Auf dem Weg halte ich noch bei einer Nudelküche und bestelle... Nudeln. Weil meine Übersetzungs-App nicht tut, zeige ich sehr selbstsicher auf ein schmackhaftes Bild und bin anschließend sehr gespannt. Zuhause probiere ich die dampfende, exotisch duftende Suppe und schütte sie dann weg.

Bald muss ich auch wieder los, um Mathilda vom Kindergarten abzuholen, Tom kommt heute erst um 17:30 Uhr, der muss noch Räder schlagen und auf Händen laufen lernen.
Mit Mathildas Rückkehr endet mein Solo für heute, jetzt müssen wir ein bisschen Logopädie spielen (kann sie immer besser), dann müssen wir für Tom das größte Abendbrot der Welt zubereiten, denn nach der Turn-AG kann er ganze Herden verspeisen und auch die alltägliche Teeparty mit Hase, Bär, zwei Babys und Yakari erwarten mich noch, der Hase mag aber keinen Tee, wir haben uns auf Bier geeinigt.

Tom platzt in die Party, knallt ein paar gute Noten zwischen imaginäre Kekse und berichtet von seinem Tag – das klingt gut, was er zu erzählen hat. Dann dröhnt wieder so ein niederschmetterndes Schlagzeugsolo durch das Haus (und bei den Fenstern auch noch durch andere Häuser) und ich höre auf, mich wie ein Rockstar zu fühlen.
Es wird dunkel, es wird halb acht und endlich betritt die beste Ehefrau aller die Bühne, jetzt können wir unsere Kümmerer-Fähigkeiten voll ausleben. Brauche ich um 9 Uhr nur eine Stunde in die Stadt, ist Verena zur Rushhour gerne auch mal zwei Stunden Gast im Stop-and-go-Verkehr. Wenn dieser neue Montag für mich der neue Freitag ist, ist für Verena der Montag einfach ein anstrengender Montag.
Ach, was war das aufregend, mal schauen, was morgen passiert. Seid Ihr auch so gespannt, ha...ha...ha.
Dienstag
Der Wecker klingelt zum ersten Mal um 6 Uhr. Dann nochmal um 6:30 Uhr. Jetzt aber hurtig...